Myrtax XIV - Gebunden für alle Zeit

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08. Jiloy 7346 Vierte Ära NL

Sonnenuntergang

Myrtax

 

 

 

Myrtax öffnete die Tür zum Gemach seines Herrn Jilal. Die Luft roch verbraucht, ein großer Dekanter mit Wein war fast geleert und stand neben dem großen Himmelbett. Die Gläser lagen achtlos daneben. Zum Glück nicht zerbrochen.

Die beiden Vampire lagen noch im Bett, keiner von ihnen war wach. Und wenn, so achteten sie nicht auf Myrtax, der nun das Tablett mit dem Frühstück auf den dunklen Tisch an der Seite stellte. Dabei schob er einige dicht beschriebene Blätter Pergament zur Seite, auf denen auch einige Zeichnungen mit Körpern und ihm unbekannten Runen versehen waren.

Leise begab er sich zu den Fenstern und öffnete eines davon. Die Sonne war bereits untergegangen und die wenigen roten Strahlen würden den Vampiren nicht schaden. Vogelgezwitscher drang nun herein, genau wie die frische Luft des späten Herbstes. Bald würde der Winter hereinbrechen, aber vorher zeigte der Herbst noch einmal, was er konnte: Blätter und Blüten in allen Farben des Regenbogens und darüber hinaus; rot, braun, gelb, golden, manchmal blau bei einigen bestimmten Pflanzen.

Lange würde diese Schönheit allerdings nicht mehr vorhalten, der Winter nahte mit großen Schritten und großer Macht. Soweit Myrtax wusste, war die Ernte gut gewesen, aber da er nicht in die Bücher hineinschauen konnte, war ihm nicht bekannt, ob die Lachlidan hungern würden oder nicht.

Myrtax klaubte die dreckigen Kleidungsstücke der beiden Vampire vom Boden auf und brachte sie nach unten in die Waschküche. Glücklicherweise musste er nicht selbst Hand anlegen, sondern die junge Sklavin vor ihm, die sich einen der anderen jungen Sklaven schnappte und die Kleidung behandelte. Es roch nach feuchter Seife, irgendwo zischte ein Feuer.

Myrtax verließ die Wäscherei wieder, die Wäsche würde erst gegen Sonnenaufgang fertig sein. Bis dahin postierte er sich im Flur vor der Tür des Gemachs von Jilal. Seinen Bericht hatte er der Herrin Rovinna bereits vor einer Stunde unterbreitet.

Sein kleiner Finger schmerzte und er rieb sich das verheilte Gewebe über dem Gelenk des kleinen Fingers, wo dieser einst gesessen hatte. Etwas mehr als ein Jahr war es nun her, dass Myrtax die Blutweinflasche hatte fallenlassen und die Herrin Rovinna ihn - sogar mit Genuss - bestraft hatte.

Die beiden Wachen schauten ihn nicht einmal mehr an. Myrtax hatte es sich zur Routine gemacht, vor dem Gemach zu warten, bis Jilal ihn zu sich rief. In solchen Momenten des Wartens wünschte Myrtax sich wieder in sein Zimmer zurück, wo er sich in die Schriften der Altvorderen vertiefen konnte. Mittlerweile war er nicht mehr so häufig in den Büchern vertieft, da sein Herr mitbekommen hatte, dass er schlecht aussah, vorwiegend müde. Daher war Myrtax etwas vorsichtiger geworden und las nur noch jede zweite oder dritte Nacht in einem der Bücher, welches er aus der Bibliothek zeitweise unerlaubt ausgeliehen hatte.

Leider hatte sich während seines Studiums der Bücher und Schriften keine Macht in ihm kanalisiert. Er wusste viel über die Anwendungen von Magie, alt oder nicht, auch hatte er Grundlagen gelernt, aber Magie konnte er nicht wirken. Bisher hatte er aber auch nicht herausfinden können, ob Magie etwas Angeborenes war oder ob man es sich auch irgendwie erarbeiten konnte. Vielleicht war es auch Allgemeinwissen unter den Vampiren und niemand sprach darüber? Er konnte allerdings auch niemanden fragen außer den Druiden.

Moment. Warum war ihm der Gedanke nicht früher gekommen? Druiden mussten doch auch ausgebildet werden. Wie wurde man zum Druiden? Wie wurde man ausgewählt? Irgendwer musste doch das Auswahlverfahren erfunden haben und nun durchführen.

Myrtax tat einen tiefen Atemzug, um sich zu beruhigen. Die Idee war gar nicht schlecht. Jetzt musste er nur jemanden finden, der es ihm erklären könnte und auch würde.

"Nur."

Wieder dieses kleine Wort. Als menschlicher Sklave hatte man es noch schwerer als ein vampirischer Sklave oder Diener. Man durfte nichts und war den Vampiren auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Man war Zuchtvieh, sei es für Blutwein oder als Notration in einem harten Winter. 

Die Zeit verging schleichend. Kein Ruf ertönte bis zur Mitternacht, da kam Jilal aus dem Gemach, schaute Myrtax kurz an und verschwand. Da er nicht gerufen worden war, blieb der Sklave an Ort und Stelle stehen. Erst etwa eine Stunde später ging die Tür erneut auf.

Jilal stand vor ihm, eine Tasche aus Leder in der Hand und Marseille direkt hinter sich. Die hübsche Vampirin hatte sich kaum verändert im letzten Jahr, nur die blauen Flecke waren weniger geworden. Ihre braunen Augen strahlten aber nicht mehr so wie zuvor. Insgeheim tat sie Myrtax auch immer noch leid, aber sie hatte ihn ebenso verstümmelt und drangsaliert wie Rovinna und wirklich vergeben hatte er ihr auch nicht. Er hatte es ihr nur gesagt, um ihre seelischen Tortur weiter zu erhöhen.

An manchen Tagen hatte er darüber nachgedacht und hatte sich die Frage gestellt, ob er damit nicht selbst zum Teil ein Vampir geworden war, aber diese Antwort war immer dieselbe gewesen: nein, denn er wusste, was Gnade war, ein Vampir wusste es nicht oder es kümmerte ihn nicht.

"Komm mit und stell keine Fragen.", zischte Jilal ihn an, seine vernarbte linke Seite mit Schminke abgedeckt, aber die nun verheilten Verbrennungen waren immer noch zu sehen. Myrtax nickte nur und ging hinter Jilal und Marseille her. Der Erbe des Lachlidan-Clans führte ihn Richtung Küche am Fuße des Baumes und bog vor dem Ausgang nach rechts ab und von dort in einen schmalen steilen Gang, der mit ebenso schmalen Stufen abrupt in die dunkle Tiefe des Wurzelgeflechts des riesigen Anwesenbaums von Leysirith führte. Jilal hielt einen schwach schimmernden Kristall in die Höhe, was aber kaum ausreichte, um einen Meter in den Gang hineinzuleuchten.

Hier unten wusste Myrtax nun auch, warum die Stadt den Beinamen "Stadt der schwarzen Adern" hieß: die Wurzeln des Baumes waren nicht nur gigantisch und weit verästelt, sondern drückten sich sogar in die kleinsten Spalten. Und sie alle waren dunkelbraun bis pechschwarz. Das hatte er von dem eigentlich braunen Holz nicht gedacht.

"Wohin gehen wir?", traute er sich nach etwa einer halben Stunde - er hoffte, dass es eine halbe Stunde war - aber Jilal gab ihm keine Antwort und wenn Marseille etwas wusste, so sagte sie es ihm auch nicht. Ihr Geruch nach Blüten und Gras, der ihm in die Nase stieg, war aber eigentlich ganz angenehm, zusätzlich zu dem Geruch von potenter Erde.

Nach fast einer Stunde gelangten sie an eine Kreuzung, von der fünf Wege in unterschiedliche Richtungen abgingen. Keine von den Öffnungen hatte bestimmte Markierungen, alle fünf sahen gleich aus. Jilal schien aber zu wissen, wohin er ging und er nahm den Gang direkt voraus, der nach wenigen Metern etwas schmaler und niedriger wurde, sodass kaum noch Platz war.

Irgendwann wurde die reine Erde, die von Wurzeln durchzogen war, auch weniger und ersetzt durch graues Gemäuer. Schmucklos, praktisch, haltbar, wobei sich auch hier einige Steine durch den Druck der Wurzeln im Erdreich verschoben hatten und nun hervorstachen. Myrtax stieß sich nämlich an einem von ihnen den Ellbogen.

"Obacht.", brummte Jilal, der im Dunkeln wesentlich besser sehen konnte als Myrtax, der sich nur an dem Rücken von Marseille orientierte, die durch ihr helles Kleid besser zu sehen war. Nicht viel besser, aber wenigstens ihre Kontur konnte er in der Dunkelheit ausmachen. Der Lichtkristall half dabei nur wenig.

Sie stiegen wieder schmale Stufen hinauf in die Dunkelheit. Etwas öffnete sich und die drei Personen traten aus einer schmalen, dunklen Holztür hinaus in einen deutlich größeren Raum, der sich hier wohl wieder über der Oberfläche befand, denn Myrtax konnte durch schmale Fenster Sterne und Wolken sehen.

Der Raum war nicht sonderlich groß, ein wenig kleiner als das Gemach des Vampir-Adligen und seiner jetzigen Frau. Er war eckig, es roch nach Holz und Wachs. Linkerhand standen zwei Werkbänke, auf der rechten Seite gab es mehrere Regale mit etwas, was an Werkzeuge erinnerte und eine Tür, die weiter in das Innere von dem führte, worin sie sich befanden. Vermutlich ein Haus weit hinter dem Baumanwesen der Lachlidan.

"Da seid ihr ja.", sprach eine leise Stimme von der rechten Seite, ein Schatten löste sich und ein Vampir trat aus den Schatten heraus. "Was macht der Mensch hier?"

Er war kräftig, kräftiger als ein Feldsklave auf jeden Fall. Er schien mit Holz zu arbeiten, was auf einiges an handwerklichem Geschick und Kraft schließen ließ. Sein Hemd konnte die Muskeln nur unzureichend verbergen.

"Er ist mein Sklave und wird mir helfen.", brummte Jilal. "Sind wir ungestört?"

"Natürlich. Meine Frauen sind aus dem Haus und meine Kinder werden erst morgen bei Sonnenuntergang heimkehren. Wofür brauchst du meine Werkstatt und dieses Gerät?"

"Das lass mal meine Sorge sein. Ich danke dir nur schon einmal, dass du mir hier mit deiner Werkstatt hilfst." Jilal ließ die Ledertasche von seiner Schulter gleiten. "Für Licht werde ich schon sorgen. Egal, was du hörst, komm nicht herein. Ich werde dich wissen lassen, wenn ich etwas brauche oder wieder gehe."

"Nun gut, mach hier drin aber nichts kaputt."

Die Tür schloss sich mit einem kaum vernehmlichen Geräusch des Schlosses hinter dem fremden Vampir.

"Also dann." Jilal legte die Ledertasche auf die vorderste der beiden Werkbänke und entzündete mit einem Schnippen seiner Finger das gute Dutzend Kerzen, welche verteilt im Raum standen und an zwei Säulen in Halterungen steckten.

"Herr? Darf ich etwas fragen?"

"Hast du bereits."

Myrtax verbiss sich die spitze Bemerkung, holte Luft, um seiner Neugier Ausdruck zu verleihen. "Verzeiht mir meine Neugier, Herr, aber solltet Ihr als Erbe Eurer Blutlinie nicht auch das Erbe der Druiden antreten?"

Jilal schaute von seiner Ledertasche hoch, die Augen etwas zusammengekniffen. "Das ist richtig, das werde ich auch. Aber was interessiert dich das?"

"Als Euer persönlicher Diener interessiert mich natürlich auch der Werdegang meines Herrn.", sprach Myrtax hastig. "Ich frage nur aus rein professionellem Interesse, um Euch besser dienen zu können." Er verneigte sich dreimal rasch hintereinander, um seine Unterwürfigkeit noch deutlicher hervortreten lassen zu können. "Braucht man denn unbedingt Magie, um ein Druide werden zu können?"

"Ja." Jilal holte ein großes Tintenfass aus der Tasche, welches dunkelblau im Kerzenlicht schimmerte. Dazu gesellten sich ein Pinsel und einige dicht beschriebene Blätter, soweit Myrtax es erkennen konnte. "Zieh dich aus."

"Ich?"

"Nein, sie."

"Ich?", kam es überrascht von Marseille.

"Ja, du. Sacht mal, wollt ihr mich gerade ärgern?"

"Nein!", kam es synchron von den beiden Dienern und Marseille begann sich langsam zu entkleiden. Myrtax wandte den Kopf wieder zu Jilal.

"Und wie bekommt man Magie? Ich meine, die meisten Vampire besitzen irgendwo magisches Talent, aber doch nicht jeder?"

"Und wie soll dir das helfen, mir besser zu dienen?", fragte der Erbe argwöhnisch. "Magie geht dich nichts an."

"Auch hier habt Ihr vollkommen Recht, mein Herr." Wieder verneigte sich Myrtax, aber dieses Mal nicht so tief. "Aber im Lichte Eurer Vermählung mit Marseille und eines möglichen Kindes müsste ich mich darauf vorbereiten. Ihr könnt sicherlich verstehen, dass der Verlust eines Fingers aus Unzulänglichkeit etwas anderes ist als aus Versehen verbrannte Haare."

Jilal ordnete die fünf Blätter in einer Linie an, das Pergament ganz links zeigte ein schmales verschnörkeltes Zeichen, welches auf den Körper aufgetragen werden sollte, wenn Myrtax die Zeichnung richtig deutete.

"Du willst also wissen, wie jemand Magie bekommt oder erlernt?"

"Wenn Ihr die Güte hättet, mir dies zu erklären?"

"Damit du nachschauen kannst, ob du selbst Magie erlernen kannst?"

Der Vampir hatte genau getroffen und Myrtax schüttelte rasch den Kopf, auch wenn ihm das Herz sofort in die Hose gerutscht war.

"Nein, mein Herr.", antwortete der Sklave rasch und winkte ab, Schweiß begann seinen Rücken hinunterzulaufen. Jilal hatte genau getroffen mit seiner Vermutung, hoffentlich war er nicht misstrauisch genug geworden. Myrtax hatte immer noch ein Buch der Altvorderen unter seiner Matratze versteckt.

"Wie ich sagte", sprach er weiter, um Jilal keine Zeit zur Antwort zu geben, "mir geht es nur darum zu begreifen, wie dieser gesamte Prozess aussieht und ob man irgendwie erkennen kann, ob ein geborenes Ei - oder der geschlüpfte Vampir - Magie in sich trägt, um beispielsweise Vorbereitungen zu treffen oder den Lebensweg zu bestimmen."

"Und welche Vorbereitungen würde ein Mensch, ein menschlicher Sklave, treffen, sollte mein Kind magisch begabt sein?"

"Ich würde Euch um reißfeste Kleidung bitten.", antwortete Myrtax prompt. "Schutzkleidung, wenn Ihr so wollt."

"Warum sollte mich interessieren, ob mein Kind dir die Organe verflüssigt oder dir Knochen bricht?"

"Weil Ihr einen erfahrenen Sklaven an Eurer Seite habt und dieser nicht so schnell ersetzt werden kann?"

"Du sprichst wie meine Mutter.", zischte der Vampir, begann sein Hemd zu öffnen. "Ich mag das nicht. Aber um deine Frage zu beantworten: es gibt keine Möglichkeit, die mir bekannt wäre, um Magie in einem Menschen oder Vampir zu entdecken. Auch kann man Magie nicht erlernen, man hat entweder das Potential dazu oder eben nicht. Vielleicht wissen die Abbaturi oder die Talrian mehr, da ihre Gelehrten sich mehr damit befassen als wir", dabei hörte er sich an, als würde er Glas zwischen den Zähnen haben, welches ihn schmerzte, "aber uns ist nicht bekannt, dass man nachträglich Magie erlernen könnte."

"Ich verstehe, Herr." Myrtax verneigte sich und ihm wurde das Herz schwer, Enttäuschung machte sich in seinem Gemüt breit. Alles verloren, keinerlei Möglichkeit, die Kraft der Altvorderen an sich zu nehmen und diese Vampire langsam zu häuten. "Vielen Dank für Eure Geduld und die ausführliche Erklärung."

"Hm." Jilal reichte Myrtax ein schmales Messer, welches kalt im Licht der Kerzen glänzte. "Stell keinen Unsinn an, das brauchst du gleich."

"Ja, Herr." Der Sklave schaute Jilal zu, wie sich dieser auch vollständig entkleidete, das Tintenfass aufschraubte, in die Hand nahm und den Pinsel vom Tisch hob, bevor er die Zeichnung des Symbols auf den Boden vor Marseille legte.

"Arme ausbreiten.", befahl der Vampir seiner zwangsverheirateten Gemahlin. "Myrtax, an ihre Seite, mir egal, welche. Ja, halt ihr das Messer über die Hüfte. Höher, links, noch höher, genau da. Da sitzt ihre Niere. Wenn sie sich bewegt oder irgendetwas macht außer hübsch auszusehen und zu atmen, stichst du ihr die Klinge in den Leib, verstanden?"

"Ja, Herr." Myrtax schluckte, drückte die Messerspitze etwas in die Haut der Frau, ohne sie zu verletzen. Sie sollte merken, dass er da war. Ein Hauch von Macht rann in seinen Leib und Myrtax gefiel es irgendwie. Und egal, wie abscheulich Marseille zu ihm gewesen war und noch sein würde, ihr sanfter Duft nach Rosen erinnerte ihn sehr an Huria. Er hatte diesen Geruch gemocht.

"Liebling...", begann Marseille, aber Jilal schaute sie mit stechendem Blick an.

"Nicht jetzt, mein Schatz. Ich werde dir alles erklären." Für Myrtax hörte es sich gar nicht liebevoll an. "Handflächen nach unten. Genau so. Jetzt einfach stehenbleiben. Es tut auch nicht weh. Glaube ich."

Marseille presste die Lippen aufeinander, als Jilal damit begann, das Symbol auf dem Pergament so genau wie möglich auf Marseille zu übertragen. Er fing damit an, dass er die Linien ihrer Knochen, angefangen bei den Fingern, nachzeichnete. Die Tinte war schwarz wie die Nacht, kleine silberne Punkte schimmerten darin. Es gab eine Schlaufe auf jedem Schlüsselbein, trafen sich auf dem Brustbein und formten dort eine Art verschnörkeltes Herz. Die Linien teilten sich unter der Brust, wanderten an den Seiten nach unten und trafen sich über ihrem Schambereich.

Um den Bauchnabel wurden zwei Kreise gemalt und diese mit vier schmalen Linien verbunden. Mit ihrem Bauchnabel sah es fast so aus, als hätte sie ein Auge in ihrer Leibesmitte.

Von ihrem Schambereich ausgehend wanderten zwei Linien ihre Beine hinab; auch hier wurden auf ihren Knien zwei Schlaufen gebildet und endeten auf ihren Fußnägeln.

"Kopf hoch.", befahl Jilal, die Vampirin gehorchte. Nicht, dass sie eine andere Wahl gehabt hätte. Jilal zeichnete eine Art 'Stützpfeiler' von den Brustlinien ausgehend hoch bis zu ihrem Kehlkopf, wo sie sich trafen. Von dort wanderte der Pinsel von ihrem Hals über das Kinn über ihre Lippen zur Nase auf ihre Stirn. Dort teilte sich die Linie wieder und machte einen Bogen um ihre Augen, wo sie sich mit der Linie auf der Nase verbanden.

"Gut. Braves Mädchen.", lächelte Jilal und reichte Myrtax den Pinsel. "Du bei mir. Und wehe, du machst es falsch, dann häute ich dich an Ort und Stelle."

"Nein, mein Herr. Was soll ich mit dem Messer machen?"

"Lege es auf den Boden, du brauchst es gleich wieder."

"Ja, Herr." Myrtax tat, was ihm sein Herr aufgetragen hatte, nahm das Blatt Pergament in die Hand und zeichnete das verschnörkelte Symbol Stück für Stück auf die Haut seines Herrn, versuchte sich weder von seiner Nacktheit noch von dem stechenden Blick ablenken zu lassen, bis er es geschafft hatte.

Gut, ein wenig Tinte tropfte auf den Boden und an manchen Stellen wirkten die Linien leicht ausgefranst, aber das Ergebnis konnte sich sehen lassen. Vielleicht würde Myrtax auch Bilder zeichnen. Von den Vampiren, die er hasste und erledigen würde, sobald er die Möglichkeit dazu hatte.

"Fertig, Herr." Myrtax legte den Pinsel neben das Tintenfass auf den Tisch.

"Gut." Jilal begutachtete sich und nickte leicht. "Stell dich wieder an ihre Seite, Messer wie gehabt, ja genau dort. - Du kannst die Arme wieder sinken lassen."

Marseille tat es beinahe erleichtert, aber ihr Gesichtsausdruck sagte etwas anderes. Sie hatte Angst vor dem, was Jilal vorhatte, einige blaue Flecke an ihrem Steißbein waren noch nicht ganz abgeheilt. Myrtax verstand aber nun, warum man dafür nackt sein musste.

Als Jilal die restlichen vier Blätter anhob und sie sortierte, erkannte der Sklave einige Schriftzeichen der Altvorderen und schluckte. Was immer Jilal vorhatte, war nichts, was Vampire eigentlich tun würden. Hier ging es um mehr. Nur wie viel, das würde sich jetzt zeigen.

"Beginnen wir also. Du weißt Bescheid.", brummte Jilal zu Myrtax, der Sklave nickte nur und hoffte, betete inständig zu den Infernalé, dass Marseille etwas anderes tat außer hübsch auszusehen und zu atmen.

"Nocta-hath a-bin inden.", begann Jilal von dem Pergament vorzulesen und allein bei den wenigen Worten begann die schwarze Tinte zu dampfen, allerdings nicht vor Hitze, sondern vor Kälte. Myrtax schaute genauer hin: die Tinte schien einzufrieren, feine Fäden aus kaltem Dampf stiegen von ihr auf. Jilal schien dasselbe zu spüren wie Marseille, denn auch er verzog das Gesicht. Es war offenbar nicht ganz angenehm und das freute Myrtax. Sollten sie leiden, alle beide!

Wort für Wort, Zeile für Zeile wurde die Kälte intensiver, aber keiner der beiden Vampire schien Erfrierungen davonzutragen. Marseille zitterte am ganzen Körper, vermutlich wegen der Kälte, aber auch vor Angst.

Kalter Dampf waberte nun aus der Tinte heraus und langsam, Stück für Stück, versank die Tinte in der Haut der beiden Vampire. Marseille griff sich an die Brust, offenbar vor Schmerzen. Myrtax stach nicht zu, schaute zu Jilal, der beim Vorlesen des Pergaments nur leicht den Kopf schüttelte. Schade, denn der Sklave hätte wirklich gerne ihr Blut sehen wollen.

Als Jilal das letzte Blatt vorgelesen hatte, krampften beide Vampire zusammen und schrien vor Schmerzen, Marseille ging sogar auf die Knie. Jilal hob rasch den Arm, damit Myrtax nicht zustach, welcher gerade in der Bewegung war.

Verdammt!

"Das scheint funktioniert zu haben...", keuchte Jilal, richtete sich wieder auf. Seine Haut war makellos bis auf das Narbengeflecht im Gesicht. Keine Spur der Linien, keine Erfrierungen, nur etwas Dampf waberte noch von seiner Haut auf und zerfaserte in der Luft.

"Nun denn." Der Erbe der Lachlidan-Blutlinie trat auf seine Gemahlin zu, griff ihr in die Haare und riss ihr den Kopf nach hinten, sodass sie ihn anschauen musste. Sie verzog vor Schmerzen das Gesicht, versuchte seine Hand aus ihren Haaren zu lösen.

"Liebste Marseille", säuselte Jilal, hauchte ihr einen Kuss auf die zitternden Lippen, "du wurdest Teil von etwas Großartigem: mir. Dieses kleine, vergessene, weggeschlossene Ritual der Altvorderen dient dem Zweck, zwei Seelen miteinander zu verbinden. Sogar über den Tod hinaus bis in alle Ewigkeit. Egal, ob wir wiedergeboren werden, der andere vorher stirbt oder wir in die Dunkelheit gehen oder zu den Infernalé, wir werden immer zueinander finden."

Er grinste breit, als er ihr schockiertes Gesicht begutachtete. "Ganz recht, mein Schatz, du gehörst nun für immer und auf alle Zeit mir. Wir werden immer wieder ein Paar sein, bis in alle Ewigkeit. Ist das nicht schön?"

Der Gesichtsausdruck und die Sprachlosigkeit der schönen Vampirin sprachen Bände und zeigten genau das, was Myrtax empfand und als gut ansah: das war wirklich nicht schön.

Eine bessere Bestrafung - andere würden es einen Liebesbeweis nennen - hätte sich der Mensch in seinen blutrünstigsten Träumen nicht ausdenken können.

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