5. Ethik & Moral

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Meine Taschenuhr bestätigte meine Vermutung. Unsere Abfahrt verzögerte sich. Das hat sicher gute Gründe. Ermahnte ich mich.

Ein ohrenbetäubender Pfiff erklang auf dem Bahnsteig und ein Kribbeln durchfuhr meinen Körper. Es folgte eine Durchsage, die uns im Abteil nur dumpf und unverständlich erreichte. Wir sind wohl abfahrbereit.

Behutsam zog ich meine Uhr auf und steckte sie zurück in meine rechte Westentasche.

"Sarkorska ist ja für sein gesammeltes Wissen bekannt", stellte Robert fest. Der eiserne Griff um seine Aktentasche hatte sich endlich gelöst. Zumindest für den Moment hatte ich seine Sorgen wohl zerstreuen können. "Für eine vergleichsweise junge Nation, steht sie an der Spitze der Wissenschaft. Aber warum "entführt" ihr dafür Forscher anderer Länder?"

"Sarkorska geht es nicht darum, einfach nur Wissen zu sammeln", begann ich zu erklären. "Die Nation Sarkorska ist darum bemüht, die wissenschaftlichen Interessen zukünftiger Generationen und die sozialen Interessen der Lebenden in Einklang zu bringen. Eine reine Sicherstellung beispielsweise deines Wissens würde hier zu kurz greifen. Zum einen ist es mit deiner Fachexpertise einfacher, Forschungsergebnisse zusammenzuführen und weiterzuentwickeln. Zum anderen und das ist aus Sicht von uns Korrektoren der schwerwiegendste Grund, würde dein Wissen in weiterentwickelter Form möglicherweise kriegsentscheidend sein."

"Will Sarkorska denn Krieg?!", fragte Robert erbost. Er sprang dabei fast auf.

"Mit Nichten", antwortete ich kühl. "Aber der Machtanspruch des Imperiums Raktaran werden ein paar Diplomaten nicht vom Tisch wischen können."

Aufseufzend kratzte ich mich am Kopf. "Ja, ich weiß, ich weiß. Was wir hier gerade machen, ist auch nicht gerade friedensfördernd. - Ist ein Krieg denn unausweichlich?", fragte ich rhetorisch.

"Nein", brummte Leon und riss im nächsten Moment die Augen weit auf. Im Flüsterton schob er nach. "Scheiße."

Ich verkniff mir ein Schmunzeln. "Bitte erklär Robert unsere Postion, Leon."

"Mhmmm ...", brummte Leon in sich hinein. Sein Blick suchte im Bahnhof nach einem Ausweg. Erneut erklang dieser ohrenbetäubende Pfiff, gefolgt von einem etwas deutlicheren Kribbeln. Kurz darauf setzte sich der Zug in Bewegung. Leichte weiße Dampfschwaden stiegen die Waggons empor. Sie verschwanden wieder, als die Geschwindigkeit zunahm.

"Nun …" Leon richtete sich in seinem Stuhl auf und war so bereits im Sitzen einen halben Kopf größer als Robert und ich. Langsam krempelte er seinen linken Ärmel zurück. "Die Forschung in Raktaran unterliegt keiner Moral, keinen Gesetzen. Solange das Ziel erreicht werden kann, ist jedes Mittel recht."

Sein Arm war übersät von Narben. Einige klar von Schnittwunden, andere von Verätzungen, Frostbrand war auch vertreten, bis hin zu einfachen Brandwunden. Aus den Wunden ragten vereinzelt Kristallsplitter verschiedener Größe hervor. Andere schimmerten durch die Haut hindurch.

Robert wich unterdessen die Farbe aus dem Gesicht.

"Freddy und ich. Wir waren Versuchskaninchen." Aus dem Schimmern wurde ein Leuchten. Leichte Flammen unterschiedlicher Färbung züngelten auf seinem Arm.

"D... Das ist deine ..." Robert schaute entsetzt zu mir.

"Das ist Richards Forschungsgebiet." Leon hielt mir den Arm hin. Ich wischte über ihn und die zündelnden Flammen erloschen. Die gereizte Haut beruhigte sich wieder. Doch die Narben und verbleibenden Seelenkristalle würde ich ihm wohl niemals nehmen können.

"Die Akademie missbrauchte seine Ergebnisse. Seine Hypothesen wurden an uns getestet. Wir ... Wir ..." Leons Hände ballten sich zu Fäusten. Ohne zu zögern, ergriff ich seine linke Faust für einen Moment. Er atmete durch.

"Leon und Freddy waren die einzigen beiden, die ich retten konnte", übernahm ich. "In dem Wissen, wie weit das Imperium bereit war zu gehen, kam ich zu dem Schluss, diesen Fortschritt so weit mir möglich zu stoppen und die Forschung wieder ihrem rechtmäßigen Platz zuzuführen. Wenn wir einen Krieg verhindern können, so werde ich jedes erdenkliche Mittel dafür ergreifen. An dieses Versprechen bin ich Leon und Freddy gegenüber gebunden."

"Pffff ..." Robert atmete gepresst aus. "Es gibt sie also tatsächlich."

"Ja, vermutlich schon sehr lange", antwortete ich. Experimente an Menschen sind höchst umstritten. Selbst in Sarkorska tut sich der Ethikrat mitunter schwer, bestimmte Forschungsgebiete überhaupt zu bewerten, geschweige denn zu erlauben.

"Er meinte, du erforschst dieses Gebiet immer noch." Falten legten sich über seine Stirn. "Mit Menschenexperimenten?"

"An mir selbst, ja", sagte ich trocken. "Ich suche nach Methoden, das invasive Einbringen von Seelenkristallen rückgängig zu machen oder zumindest die Wirkung zu unterbinden. Denn in Raktaran wird mit Sicherheit weiter daran geforscht. Auch wenn ich alles vernichtete, was ich finden konnte."

Plötzlich klopfte es an der Abteiltür. Zweimal kurz hintereinander und dann noch ein drittes Mal.

"Komm rein."

In der Tür stand Freddy. Mit überzogener Kapuze machte er in seiner schwarzen Jacke einen düsteren Eindruck. Es war mit Abstand sein Lieblingsoutfit. Unter der Jacke konnte man so einiges verbergen, von daher war es auch durchaus praktisch.

Er trat ein, schloss die Abteiltür und schlug die Kapuze zurück. Ein grauweißer Pferdeschwanz kam hinter seinem Kopf zum Vorschein. Eine der Folgen der Experimente war der nahezu vollständige Verlust von Farbpigmenten in den Haaren. Er wirkte äußerst zufrieden auf mich. Robert schien dies anders zu sehen, sein Blick wechselte zwischen uns dreien unsicher hin und her.

"Na, was hast du gefunden?", fragte ich und deutete ihm sich zu setzen. In Richtung Robert meinte ich erklärend. "Du solltest nicht erwarten, Freddy Lachen zu sehen."

Freddy drehte sich zu Robert und schaute ihm monoton in die Augen.

Das macht es jetzt nicht besser ... "Freddy?"

Er wendete sich wieder ab und zückte eine Karte und einen Kristallschreiber.

Darauf notierte er mehrere Wörter und hielt sie uns hin. Die Wörter funkelten in dunkelblauen Flammen und verblassten nur wenige Sekunden nach dem Schreiben wieder. Nachdem Freddy seine Zunge verloren hatte, versuchte er gar nicht mehr Worte mit dem Mund zu formen.

: Keine Sorge. Bin Nett. Mag Dich. Sympathisch. :

Robert schloss für einen Moment die Augen und wendete sich dann mit einem Lächeln an Freddy. "Na dann ist ja alles im Lot."

Auch wenn Robert es ehrlich meinte, war es halb gelogen. Da ich in Zukunft mit ihm zusammenarbeiten wollte, war es mir aber wichtig, keine unnötigen Geheimnisse oder Lügen aufzutischen. An der Balance würde ich noch arbeiten müssen.

Unterdessen stupste ich mit meinem Bein Leon an. Nach seinem Aufbrausen war er in sich gesackt und suchte in den vorbei ziehenden Häusern Ablenkung. Ich hielt ihm unauffällig meine Faust hin, die er mit einem stupsen erwiderte.

: Hab 2. Versteckt. Viele Werkzeuge. Waffen? :

"Möglich. Wir sollten die Augen offen halten. Weißt du, wo sie ungefähr sitzen?"

: Abteile :

"Das ist nicht gut, oder?", fragte Robert.

Ich wiegte mit dem Kopf ab. "Bis wir sie identifiziert haben, sollten wir vorsichtig sein."

: Wie letztes mal? :

"Ja", nickte ich. "Wir werden beim Essen nach ihnen Ausschau halten. Bis dahin halten wir den Ball flach." Ich wendete mich an Robert. "Wenn du wo hin willst, wird dich einer von uns unauffällig begleiten." So weit das in einem Zug möglich war.

< ... >
< ... >
< ... >
< Fragen der Innenrevision >

Richard Thal: "Zu wissenschaftlichen Experimenten rate ich der Innenrevision Kontakt mit dem Hohen Rat aufzunehmen."

Innenrevision: "... Dazu wollte ich keine Fragen stellen."

Richard Thal: "Das wollte ich auch nicht infrage stellen. Ihnen sind die Regeln ja wohl bewusst."

Innenrevision: "Natürlich ... Nun ... Wieso geben sie auf feindlichem Territorium Geheimnisse des Korrektorats preis? Noch dazu an einen zu dem Zeitpunkt noch nicht bestätigten Überläufer?"

Richard Thal: "Genau genommen ist der Zug Teil des Territoriums von Hardon und unterliegt damit dem gemeinsamen Abkommen. Unabhängig davon verfüge ich über die Mittel, meine preisgegebenen Informationen wieder zu vernichten."

Innenrevision: "Dass Sie Anwender blauer Seelenflammen sind, ist mir sehr wohl bewusst. Jemand hätte sie aber überhören können."

Richard Thal: "Flammenbeherrscher."

Innenrevision: "Wie bitte?"

Richard Thal: "Ich bin Flammenbeherrscher, kein einfacher Anwender."

Innenrevision: "Ja, ok."

Richard Thal: "Merken Sie sich den Unterschied. Im Außendienst kann er der Unterschied zwischen Leben und Tod sein. Ob jemand nur Seelenflammen kontrollieren oder sie auch selbst in potenter Menge erzeugen kann, macht im Kampf einen massiven Unterschied. Für ersteres gibt es Artefakte, die man einem Anwender wegnehmen kann. Das Erzeugen von Flammen erfordert ein Seelenorgan. Nimmt man dieses, ist der Kontrahent tot."

Innenrevision: "Vielen Dank für die Erinnerung. Nichtsdestotrotz hätten Sie überhört werden können."

Richard Thal: "Sehr unwahrscheinlich. Die Abteile der Windstecher werden gerade für ihre Privatsphäre geschätzt. Sarkorska hat sie schließlich auch entworfen."

Innenrevision: "Aber ..."

Richard Thal: "Ich bürge für die Sicherheit des Abteils. Es gab auch keine Abhörgeräte. Entsprechendes würde mehr wie ein diplomatischer Zwischenfall zwischen Sarkorska und Hardon bedeuten."

Innenrevision: "Seien Sie sich sicher, Herr Thal. Wir werden diese Information beobachten."

Richard Thal: "Unser Vorgehen ist Raktaran bewusst. Sonst wäre dieser Bericht bereits beendet, meinen Sie nicht?"

Innenrevision: "Sie sind immer noch Korrektor, Herr Thal. Muss ich Sie daran erinnern, in welcher Situation Sie sich befinden?"

Richard Thal: "..."

Innenrevision: "Nun setzen Sie Ihren Bericht fort."

Für daran anschließende Operation Palingenese siehe: https://www.worldanvil.com/community/manuscripts/read/6707376984-midnightplay-operation3A-palingenese
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